Surplus - Kunstverein Linz 2023

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„Surplus“ – Das ist der Überschuss, das Überschüssige, von dem sich
der Mensch Wohlstand, Wohlbefinden und Freiheit verspricht, sich
letztendlich aber doch darin selbst einzubauen droht, seine eigenen
Lebensbedingungen konterkariert und zum Einsturz zu bringen vermag

In der Rauminstallation „Surplus“ setzt Dan Dryer immer wieder die reflektierenden Oberflächen von Aluminium ein. Auf dem Boden und an den Wänden bilden sie Strukturen, in welchen Symmetrie gesucht und gebrochen wird. Das Bild der Realität, das in den Platten und Formationen reflektiert wird, ist verzerrt und fragmentiert.
Ein klares Spiegelbild sucht man hier vergeblich. Die Spiegelung im Aluminium ist schemenhaft, verwischt, ein blinder Spiegel, ein blinder Fleck. Doch Hier und da scheinen sich diese Ausweglosigkeit und dystopische Härte, welche von den technoiden Oberflächen ausgehen, aufzulösen und zu wandeln: Empfindsam und weich reagiert das Aluminium, oxidiert, lässt sich biegen und falten, streichen und bürsten. Je nach Bearbeitungsrichtung reflektiert das Material das darauf fallende Licht.

Statische Inseln werden zum Podest, eine Art Bühne für die
physische Interaktion von „Steuerstab“ und Aluminium. Ein eingefrorener Moment, der von ambivalenten Prozessen zeugt:
Von kontrollierter Führung und Zufallsreaktion. Der skulpturalen Formation sind gewaltsamer Stoß und zärtliche Faltung, Kraft und Fragilität gleichermaßen eingeschrieben. Wuchtig scheinen die Stäbe die aufbäumende Bewegung des Aluminiums zu erzeugen, und
diese gleichzeitig statisch einzugrenzen, ein Flügelschlag im Klammergriff.

So liegt die Mehrsinnigkeit der Bilder und Eindrücke in der Ausstellung Surplus bereits dem Assoziationsprozess von Dan Dryer beim Entwickeln der Arbeit zugrunde: Die schwefelgelben und signalroten Stahlstangen wie auch das stabile Dämmmaterial weisen auf Prozesse der Nukleartechnologie: Im Kernreaktor lenken sogenannte „Steuerstäbe“ die Elektronen, grenzen sie ein – ein Prozess kontrollierter Zufallsreaktionen, welchen Dan Dryer assoziativ weiterdenkt und in eine skulpturale Bildsprache reich an Konnotationen überträgt: So lässt ein Kernreaktor auch an ein Flugobjekt denken, das wiederum die Struktur eines Käfigs wachruft.
Im Bild des Vogelkäfigs konzentriert sich ein Moment größter
Diskrepanz, nicht nur des Vogels, sondern im übertragenden Sinne auch des Menschseins: Der Freiheitsdrang im gleichzeitigen Erfahren der eigenen Begrenztheit.

Vogelstimmen im Raum. Fliegen, Flügelschlagen, lebendiges Gewimmel in der Luft – vielleicht sind dies Bilder, die mit den Klängen im Raum zunächst assoziiert werden. Doch was den Raum in einem Moment öffnet, scheint ihn im nächsten Augenblick wieder zu schließen. Zu dicht das Vogelgezwitscher, in gewisser Weise doch unnatürlich. Es sind Auszüge aus dem Werk „Bird Cage“, des Fluxuskünstlers und Musikers John Cage von 1972 zu hören. Die Vogelstimmen wurden mit synthetischen Sounds kombiniert und durch verschieden Spuren und Scores komponiert. Auch hier handelt es sich um eine vom Menschen kontrollierte Struktur.
Die Perversion des Vogels im Käfig wird noch gesteigert, denkt man an den kleinen Spiegel, den der Mensch seinem Wellensittich in den engen Verschlag hängt. Hier kann sich das arme Tier selbst anschauen, damit es sich nicht ganz so einsam und eingesperrt fühlt. Der Spiegel wird zum Gegenüber. Zur fiktionalen Raumöffnung, zum vermeintlichen Ausweg aus klaustrophobischen Zuständen, des Alleinseins und der
räumlichen Enge. Oder ist es vielleicht doch genau andersherum?

Die Fläche aus Fallschutzmatten dämmt und isoliert das Geschehen vom Boden ab. Vereinzelt liegen die Matten aus Gummigranulat und Schaumstoff schützend und stützend, dämmend und dämpfend auf Säulen und Boden, bilden Brücken und Halterungen. Doch auch hier wird die Mehrdeutig spürbar: Wo das Dämmmaterial auf der einen Seite Schutz suggeriert, kippt die Konnotation in eine beklemmende Vorstellung davon, wie Schall, Vibrationen und Schwingungen im Dämmstoff
geschluckt und getilgt werden.

Automatisch sucht unser Blick im Raum nach Anzeichen von
Lebendigem, und findet diese vielleicht in den vereinzelten
Formationen aus Elektrokabeln wieder, die hängend, sich einrollend und überlagernd locker formiert wurden. Hier scheint ein kurzes Aufatmen möglich, eine vermeintliche Lebensader – und doch sind es elektrische Leiter aus Metall und Kunststoff.

In dieser konstruierten und zugleich fragmentierten Welt,
welche Dan Dryer hier aufspannt, gibt es weder natürliche Stoffe noch Strukturen. Vom Menschen zur Verbesserung der menschlichen
Lebensbedingungen geschaffen, scheinen die industriellen
Elemente und Konstruktionen nunmehr ein Eigenleben zu führen, in dem selbst menschliche Bedürfnisse keinen Platz mehr finden können.
Hat sich der Mensch durch sein Streben nach Fortschritt in eine Welt manövriert, in der er selbst kaum noch vorkommen kann?

Das Anthropozän bezeichnet ein neues geologisches Zeitalter, das vom Menschen bestimmt ist. In dem es kaum noch Lebensraum gibt, der nicht von ihm gemacht und beeinflusst ist. Die Eingriffe seit Beginn der
Industriellen Revolution vor rund 200 Jahren in die biologischen,
geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde sind so massiv, dass die Auswirkungen noch in 100.000 Jahren zu spüren sein werden. Doch wie lange werden Menschen in ihrer selbst gestalteten Welt
überhaupt noch existieren können?

(Textauszug der Rede von Jari Ortwig)